Elektrik/Elektronik (E/E) und Software sind heute im Fahrzeugentwicklungsprozess von zentraler Bedeutung. Wie Software schneller in die Fahrzeuge gelangen kann und welche Rolle die KI für die Beschleunigung der Entwicklung spielt, erläutert Ralf Rentschler im Interview im PROSTEP Newsletter. Ralf Rentschler ist Teamleiter IT Systemintegration, E/E Dokumentation und Absicherung bei der Mercedes-Benz AG.
Frage: Welche Veränderungen ergeben sich durch Megatrends wie Elektrifizierung oder Autonomes Fahren in der E/E- und Software-Entwicklung bei Mercedes-Benz?
Rentschler: Ich bin Experte für E/E-Hardware- und Softwaredokumentation. Zu Themen wie Autonomes Fahren kann ich keine Stellung beziehen. In der Methodik der Fahrzeugdokumentation erlebe ich jedoch aktuell erhebliche Veränderungen. Früher hat sich der Takt der Dokumentation an der Hardwareentwicklung orientiert. Um kundenspezifische Features oder Updates schneller in die Fahrzeuge bringen zu können, haben wir vor einigen Jahren entschieden, die Dokumentation und auch das Prozessieren der Software von der Hardware zu trennen. Und wir haben angefangen, die Software agil zu entwickeln und zu dokumentieren.
Frage:Welche Herausforderungen ergeben sich durch die Trennung von E/E- Hardware und Software mit Blick auf Prozesse und IT-Systemlandschaft?
Rentschler: Wir haben heute eine historisch gewachsene, ziemlich heterogene IT- Systemlandschaft in der Produktdokumentation. Diese wird stetig weiterentwickelt. Zu berücksichtigen sind insbesondere unterschiedliche Anforderungen, die sich aus der Taktung der Software- und E/E-Hardwareentwicklung ergeben. Diesen Sachverhalt berücksichtigen wir auch bei der Neuentwicklung maßgeschneiderter Dokumentationssysteme.
Frage: Erfordert die Trennung neue Abstimmungspunkte, um die E/E-Hardware- und die agile Software-Entwicklung zu synchronisieren?
Rentschler: Es gibt dazu ein großes Projekt bei uns, das sich Ende zu Ende mit dieser Thematik befasst. Dabei geht es hauptsächlich um die Frage, wie man die Software von der E/E-Hardware trennen kann, wie man sie agil entwickelt und wie man sie durch die einzelnen Systeme aufs Fahrzeug prozessiert, nicht nur in der Entwicklung, sondern auch in der Produktion und im After Sales. In diesem Projekt arbeiten Prozess- und Methodenexperten zusammen mit den IT-Spezialisten an verschiedenen Arbeitspaketen. Unter anderem wird die ganze Software- Dokumentation neu aufgesetzt, als Cloud-Anwendung mit einem modernen Webclient.
Frage: Ergibt sich bei der Einführung einer neuen Dokumentationsmethodik bzw. eines neuen Dokumentationssystems für Software nicht das Problem „des geeigneten Zeitpunktes“? Welche Anforderungen ergeben sich mit Blick auf die laufenden Fahrzeugentwicklungsprozesse?
Rentschler: Das ist ein guter Punkt. Die Anforderungen der Fahrzeugentwicklung betrachten wir mit höchster Priorität. Notwendigkeiten im Sinne von Datenmigration und Transformationsprozessen wie eine zeitweise redundante Dokumentation in Bestands- und Neusystemen sind pro Fahrzeugentwicklungsprozess in Expertenteams zu beleuchten. Dieser Transformationsprozess in der Dokumentation ist aufwendig, zahlt aber auf eine zukünftig agilere Fahrzeugentwicklung ein.
Frage: Entwickelt Mercedes-Benz nicht auch für die Dokumentation der E/E- Hardware eine neue Lösung?
Rentschler: Ich verantworte die Entwicklung und den Betrieb des E/E-PDM-Systems, in dem bis dato E/E-Hardware und auch noch Software dokumentiert wird. Selbstverständlich überlegen wir, parallel zur Softwaredokumentation eine neue, schlanke und hochintegrierte Lösung für die E/E-Hardwaredokumentation bereitzustellen. Die Anforderungen an die E/E-Hardwaredokumentation sind vielfältig. So müssen unsere Ingenieure heute elektrische Eigenschaften Stecker/Pin-genau bedaten. Von einer manuellen Datenbereitstellung wie heute wollen wir weg. Ingenieure sollen in erster Linie „entwickeln“ und die notwendige Dokumentation einfach & schnell erledigen können. Dafür wollen wir ein integriertes System, mit Schnittstellen zur Softwaredokumentation und unserem Stücklistensystem zur Verfügung stellen. Im Vordergrund steht hierbei das Einquellenprinzip im Systemverbund und ein Maximum an Systemunterstützung.
Frage: Welche Rolle spielt die PROSTEP-Tochter BHC bei der Entwicklung der neuen Lösung?
Rentschler: Die Beraterinnen und Berater von BHC sind bei uns Prozess- und Methodenexperten, die seit Jahren die bestehende E/E PDM-Lösung begleiten. Diese ist in verschiedene Domänen aufgeteilt. Die BHC arbeitet hier mit ihren Domänenexperten in agilen Scrum Teams mit unseren internen Product Ownern und Entwicklungsdienstleistern zusammen und beschreibt einen Großteil der Anforderungen, die dann IT-technisch umgesetzt werden. Wir wollen die Experten von BHC auch in die Neuentwicklung der EE-Hardwaredokumentation einbeziehen. Das Projekt läuft aber gerade erst an. Wir befinden uns noch in der Fokus-Phase und überlegen, wie wir das Projekt aufsetzen und welche Arbeitspakete notwendig sein werden.
Frage: Wenn in der neuen Lösung nur noch die E/E-Hardware dokumentiert wird, sind sicher neue Schnittstellen erforderlich, um die Hard- und Software- Konfigurationen verwalten zu können?
Rentschler: Genau, Hard- und Software kommen in der Fahrzeugentwicklung natürlich wieder zusammen und werden später im Prozess gemeinsam getestet. Auch dafür gibt es heute schon Lösungen. Wir haben z.B. einen kleinen Microservice implementiert, der bereits heute von der neuen Software-Dokumentation genutzt wird. In dem Moment, in dem der Bauteilverantwortliche die Zuordnung treffen muss, welche Software zu welcher Hardware gehört, schlägt ihm dieser Service auf Basis der Analyse von Bestandsdaten eine geeignete Kombination vor. Das ist noch nicht KI-basiert, aber selbstverständlich kann ich mir an dieser Stelle auch den Einsatz von KI vorstellen. Das würde noch besser unterstützen.
Frage: Wofür wird die KI bei Mercedes-Benz denn in Ihrem Bereich heute schon genutzt?
Rentschler: Es gibt erste Aktivitäten zum Thema Chatbots bzw. generative KI. Im E/E-PDM-Bereich indexieren wir gerade sämtliche Dokumentationen, die es gibt. D.h. Handbücher, Hilfeseiten, teilweise auch Support-Tickets, um auf Basis von Open AI ähnlich wie ChatGPT einen Chatbot zu erstellen, der Abfragen der Anwender beantwortet. Das befindet sich aber alles erst im Aufbau. Ähnliche Aktivitäten gibt in den verschiedensten Bereichen.
Frage: Gibt es Ideen für weitere mögliche Anwendungsfälle im E/E-PDM-Umfeld?
Rentschler: Die E/E-PDM-Struktur und die Stückliste im Stücklistensystem abzugleichen ist eine weitere Idee. Obwohl sich die E/E-PDM-Struktur an der Stückliste orientiert, ergeben sich in der Praxis immer wieder Konstellationen aus Komponenten und Daten, die sich nur manuell auflösen lassen. Hier könnte eine KI die Verantwortlichen bei der Arbeit unterstützen und sie langfristig sogar eigenständig und automatisiert durchführen. Außerdem gibt es die Idee, die Aufwärts- und Abwärtskompatibilität unserer Software oder ihre Kompatibilität mit bestimmten Märkten mit einer KI zu prüfen. Sie könnte uns vor allem darin unterstützen, komplexe Zusammenhänge der Softwareversionen zu erkennen und zu visualisieren.
Frage: Wie sieht es mit den KI-Aktivitäten im mechanischen PDM-Umfeld aus?
Rentschler: Die KI-Aktivitäten im mechanischen PDM-Umfeld kenne ich nicht. In die Zukunft gedacht könnte ich mir dort aber Anwendungsfälle vorstellen, bei denen man auf Basis historischer Daten früherer Baureihen und aktuellen Lastenheften die Produktübersicht für eine entstehende Baureihe generiert, die anschließend nur noch angepasst wird. Das Gleiche könnte man sich auf für die Erstellung von Stücklisten vorstellen. Und ich glaube, dass man mit Computervision-Algorithmen auch im CAD- Umfeld viel machen könnte, indem man jedes Bauteil im Gesamtgefüge und im Zusammenspiel mit anderen Komponenten erfasst, um Vorschläge für neue Anwendungen zu machen.
Frage: Können Sie sich vorstellen, dass auch die Fahrzeug-Software irgendwann von einer generativen KI entwickelt wird?
Rentschler: Es gibt ja schon heute KI-basierte Tools und IDE-Plugins wie GitHub Copilot, die unsere Entwicklerinnen und Entwickler bei der Implementierung und beim Testen ihrer Software unterstützen, z.B. durch kontextbasierte Vervollständigung von Code- Zeilen, dem Schreiben von ganzen Funktionen oder dem automatischen Implementieren von Testfällen. Vor dem Einsatz in unserem Unternehmen mussten einige wichtige Fragen zur Datenintegrität und Compliance geklärt werden, u.a. wie wir sicherstellen, dass kein interner Code nach außen gelangt oder in welchem Rahmen die Verwendung von KI-generiertem Code erlaubt ist. Daraufhin wurde ein umfassendes Absicherungsmodell innerhalb unseres Unternehmens entwickelt, welches sowohl die Nutzung kommerzieller Coding Assistants wie Github Copilot als auch intern entwickelte Coding Assistants flankiert. Heute nutzen wir Copilot täglich, um unsere Entwicklungsprozesse zu optimieren und zu beschleunigen. Ich bin mir sicher, dass eine solche KI-basierte Unterstützung und zukünftig auch (Teil-)Automatisierung in der Entwicklung unserer Fahrzeug-Software eine große Rolle spielen wird.
Frage: Welche Anforderungen ergeben sich aus den KI-Anwendungsfällen, die Sie beschrieben haben, an Ihre externen Entwicklungspartner?
Rentschler: Die Partner, auch die Prozess-Experten, sollten ein grundsätzliches Verständnis dafür mitbringen, was mit der KI heute möglich ist. Ich erwarte von ihnen, dass sie sich mit den verschiedenen KI-Basis-Technologien auskennen und wissen, welchen Anwendungsfall sie mit einem Large Language Modell und welchen mit einer Technologie wie Deep-Learning bearbeiten können. Um beurteilen zu können, an welcher Stelle welche KI-Technologie eingesetzt werden kann, ist außerdem ein guter Mix aus Methoden- und Prozess-Know-how wichtig. Mir ist ein verantwortungsbewusster Umgang mit KI wichtig, bei dem klar ist: KI wird uns bei der täglichen Arbeit unterstützen, und ähnlich wie bei Fahrassistenzsystemen im Auto obliegt die Verantwortung uns Menschen: von der Entscheidung, KI einzusetzen über die Auswahl und Entwicklung der KI bis zur Qualitätssicherung KI-generierter Inhalte im täglichen Einsatz.
Herr Rentschler, vielen Dank für das interessante Gespräch.
(Das Interview führte Michael Wendenburg)
Zur Person
Ralf Rentschler (Jahrgang 1975) ist Teamleiter IT Systemintegration, E/E Dokumentation und Absicherung bei der Mercedes-Benz AG in Sindelfingen. In dieser Funktion ist er unter anderem für das E/E PDM-System zuständig, in dem die Dokumentation von E/E-Hardware und Software für die Mercedes-Fahrzeuge verwaltet wird. Vorher war er unter anderem mehrere Jahre für die Mercedes-Benz Research and Development in Indien tätig. Rentschler studierte Informationsmanagement an der Hochschule der Medien und begann seine berufliche Laufbahn als Software-Entwickler bei T-Systems, bevor er als IT-Architekt zu dem Automobilhersteller wechselte.
Das Interview erschien im PROSTEP Newsletter 3/2023: Interview (prostep.com)